Prof. Dr. Christine Hugh-Hildebrandt fragt, Selcuk Salih Caydı antwortet…
In: Pergamon Blog
Wir haben von der Stärke und der Schwäche der AKP Regierung gesprochen. Ihre Stärke ist die Umsetzung der Idee "WIR sind wieder wer". Ihre Schwäche ist die mangelhafte Ausführung dieser Idee und vor allem aber deren ideologische Ausrichtung.
Genau. Die Schwäche der AKP ist, dass sie den Wunsch der Bevölkerung nach diesem "WIR sind wieder wer" einlöst, diesen aber mit dem salafistischen Islam zu füllen versucht, und dabei von einem ottomanischen Reich redet, obwohl es doch einzig und allein um die Etablierung einer Ein-Mann-Herrschaft geht.
Das ist nicht weltgewandt, d.h. so etwas können sie in der heutigen Welt auf Dauer nicht mehr durchsetzen. Das wird auch von keinem ihrer Nachbarn anerkannt, niemand wird dieser Idee nachfolgen, egal wo auch immer in der Region dass versucht wird. Dafür gibt es genügend Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Aufgabe der Opposition wäre es aus meiner Sicht, diese Grundidee richtig umzusetzen. Wenn die Opposition nämlich eine ganz eigene Internationalisierungs-strategie entwickeln würde und in diese das vorhandenen breite türkische Kulturangebot einbindet, wäre damit ein Gegengewicht zur AKP geschaffen, da diese einen solchen Rahmen nicht bieten kann.
Sie kann einen solchen Rahmen nicht bieten, da sie über die kulturelle Vielfalt in der Türkei den islamistischen Mantel deckt und nur diesen nach außen zeigt?
Ja. Und genau hier liegt die Chance der Opposition, wenn sie nämlich im Rahmen einer neuen Internationalisierungsstrategie mit der kulturellen Vielfalt anders umgehen und diese mehr herausstellen würde. Wenn sie in allen internationalen politischen und kulturellen Gremien präsent wäre und dort das reale, vielfältige Bild von der Türkei präsentieren würde, als das nur islamistische der AKP Regierung, dann würde sie auch wieder an Stärke gewinnen. Und im internationalen Rahmen würde dann auch klarer aufgezeigt, dass die AKP lediglich 50 %Prozent - beziehungsweise noch weniger - der türkischen Bevölkerung vertritt.
Ich habe den Eindruck, dass dies der HDP besser gelingt, als der CHP. Deren Vorsitzender Demirtaş ist in der EU und in den USA weitaus präsenter als Kılıçaroğlu von der CHP. Gerade vor kurzem war Demirtaş in Deutschland. Aber natürlich sind auch seine öffentlichen Auftritte kein Vergleich zu den 'Wahlkampfauftritten' von Erdoğan im letzten Jahr. Aber Demirtaş tut wenigstens etwas, um die HDP im Ausland zu präsentieren. Doch das gelingt der CHP überhaupt nicht. Sie könnte schließlich ein gutes laizistisches Gegengewicht zur AKP Partei bilden. Sie ist assoziiertes Mitglied der Sozialistischen Partei Europas und Vollmitglied der Sozialistischen Internationale. Warum vertritt sie nicht lautstark ihre Position und holt sich für ihr Land dort mehr Unterstützung?
Stimmt. Bislang hat die CHP darauf viel zu wenig Wert gelegt. Aber sie hat damit begonnen. Delegationen wurden nach Syrien geschickt, um mit Assad zu sprechen, Abgeordnete reisten nach Russland… Aber Du hast Recht, im Grunde ist das viel zu wenig für eine Partei, die die Republik gegründet hat und die wieder an die Macht kommen will. Dabei gäbe es so gute Möglichkeiten, wenn sie z.B. in diesem Zusammenhang auch ihre eigenen Geschäftsleute und ihr eigenes ausländisches Kapital animierten, so dass durch sie die eigenen säkularen Kulturen mehr unterstützt werden könnten und überall in der Welt sichtbarer würden. So könnten die Leute in der Türkei aus den Medien erfahren, wie präsent ihre kulturelle Vielfalt im Ausland ist. Das wäre dann eine ganz andere Art, zu zeigen "Seht her, dass sind wir auch." Und hieraus entstände dann wieder eine selbstbewusste Gegenkultur zu dem inhaltsleeren islamistischen 'WIR sind wieder wer' der AKP.
Es stimmt, diese Vielfalt der 'säkularen Kultur' ist im europäischen Kontext nicht lebendig. Lediglich ausgewanderte oder im Ausland geborene Künstler – wie beispielsweise Fatih Akın – versuchen gegenzusteuern und zeichnen ein anderes Bild, das Bild der modernen Türkei, auch mit all ihren Widersprüchen.
Fatih Akın – und das muss man auch immer wieder betonen – ist ein ganz wichtiges Beispiel dafür, was aus jemandem mit türkischem Hintergrund werden kann, wenn ihm das freie Denken nicht verboten wird!
Ja, aber dann stößt sein Film über die Armenier in der Türkei genau auf diese Ablehnung und diesen Widerstand, beziehungsweise er wird erst gar nicht öffentlich gezeigt.
Ja, aber das ist ihm egal, denn er lebt in Deutschland. Und er hat seine Öffentlichkeit außerhalb der Türkei. Aber genau das meine ich: Die Präsenz 'unserer' Künstler in der ganzen Welt, das ist es, was für uns in der Türkei so wichtig wäre.
Gibt es in der Türkei eigentlich vergleichbare Beispiele mit einem solchen Erfolg wie Fatih Akın?
Nein. Und das hat einen ganz einfachen Grund, weil hier alles verboten ist. Hier musst du auf so viele Sachen achten. Du musst deinen Ausdruck und deine Sprache total kontrollieren. Du musst genau wissen, was erlaubt und was verboten ist ... Es gibt tausend Hürden. Wir lesen ja täglich, was passiert, wenn man sich nicht genau daran hält, in der Kunst, in der Wissenschaft oder in den Medien. Wenn man der Kunst und der Wissenschaft aber keinen freien Raum gibt, dann bleibt sie oberflächlich und ist für den internationalen Austausch uninteressant, da sie die weltweiten Standards verfehlt.
Wenn dieser Freiraum nicht gegeben ist, dann sollte sich die Opposition ihn wieder erobern, gegebenenfalls mithilfe von Partner-Organisationen und -Gruppierungen im Ausland? Ist das der Weg, den Du siehst?
Ja, wenn die türkische Bevölkerung wieder merkt, dass sie geachtet und akzeptiert wird, dass ihre kulturellen und wissenschaftlichen Vertreter wichtig sind, dass sie wieder in internationalen Gremien und Jurys einen Platz erhalten, dass sie von Franzosen, Afrikanern, Amerikanern, Chinesen und Japanern akzeptiert und wieder mehr eingeladen werden, dass sie Preise gewinnen, ihre Vorstellungen von Politik, Kunst und Kultur und sozialem Leben öffentlich diskutieren ... dann wird plötzlich die ganze Breite sozialer, politischer und kultureller Vielfalt sichtbar, wie sie im Lande ja real vorhanden ist. Und so kann man Zug um Zug das Gegenbild zu diesen beschränkenden islamistischen Vorstellungen aufzeigen.
Dann wird das auch im Inland gesehen, zumal es sich hier nicht um etwas von außen Aufgesetztes handelt, sondern im Gegenteil das Eigene und Besondere in diesem Lande wieder mehr hervorgehoben wird.
Ich könnte mir das gut als Gegenbewegung zu dem vorstellen, was gegenwärtig aus der Türkei zu uns so hinüberschwappt. Erdoğan und seine ihm ‘noch‘ Vertrauten versuchen ja die im Land bestehende Polarisierung auch in die europäischen Länder hineinzutragen und die im Ausland lebende türkische und türkisch-stämmige Bevölkerung damit ebenfalls zu spalten. Durch diese Spaltungsversuche werden die rechtsnationalistische Gruppierungen im Inland und im Ausland gestärkt. Diese Versuche stossen bei der Mehrheitsbevölkerung auf harsche Ablehnung und führen zum weiteren Erstarken der sowieso latent vorhandenen Islamophobie in den europäischen Ländern. Eine Gegenbewegung zum dem Unfrieden stiftenden Teil aus der Türkei also.
Das wäre ein Versuch wert, denn diese nationalistische konservative islamistische Schiene der AKP hat in Europa – das sieht man ja jetzt bereits –absolut keine Erfolgschance. Sie ist rückständig und wirkt auf die Europäer nicht gerade attraktiv. Sie führt zur weiterer Ghettoisierung und Ausgrenzung und letztlich – wie wir gesehen haben – zur Radikalisierung eines Teils in der Bevölkerung, wie diejenigen, die aus den europäischen Ländern aufbrechen, um in den Heiligen Krieg gegen den Westen zu ziehen.
Ich denke, es geht vielmehr darum, ein in die Welt gewandtes, integriertes neues Türkentum entstehen zu lassen. Atatürk hat das einmal auf seine Weise angefangen. Seine Art, wie er es durchsetzen wollte, die ist gescheitert. Das muss man heute akzeptieren und muss jetzt etwas Neues daraus machen. Es gilt einiges neu zu ordnen, und zwar auf der Grundlage einer neuen Qualität, die nicht zerstörerisch und spaltend wirkt, sondern die integrierend, offen und zeitgemäß ist. Ich glaube hier müssen wir in der Türkei noch viel lernen, zu fest verankert ist das spaltende polarisierende Denken im Land.
Ziel der Opposition sollte daher weiterhin der Beitritt der Türkei zur EU sein. Doch hierzu muss sie selbst erst einmal die demokratische Basis für eine säkulare Türkei schaffen bzw. wiederherstellen. Das versäumt sie aber bisher. Innenpolitisch blickt sie lediglich auf die Aktivitäten der AKP und versucht, den allergrößten Schaden für das Land noch zu verhindern. Zu mehr ist sie im Moment nicht in der Lage.
Und genau dabei müsste sie eine breite Unterstützung aus den europäischen Ländern erhalten, damit sie sich auch auf andere Aufgaben konzentrieren kann. Die Unterstützung sehe ich bislang kaum.
Das ist ja zum Teil auch verständlich. Die offizielle Politik in der Türkei wird gegenwärtig halt von der AKP gemacht. Und mit der AKP-Türkei muss man dann verhandeln. In Europa darf man nur nicht in den Fehler verfallen und so tun, als stehe man hinter dieser islamistischen AKP-Politik. Hier deutet sich in der EU nur sehr langsam ein Umdenken an. Man konnte ja auch lange Jahre davon ausgehen, dass man es mit einer laizistisch denkenden Regierung zu tun hat. Das hat sich durch die jüngsten Ereignisse geändert und muss in den politischen Gremien und Parteien der EU erst einmal verstanden und verarbeitet werden. Das heißt, im europäischen Raum müssen die eigenen roten Linien in Bezug auf die Türkei neu gefunden und klar definiert werden. Es muss klar Position bezogen werden, worin man übereinstimmt und wozu es keinen Kompromiss geben kann
Du bringst Deine ablehnende Haltung zur islamistischen Umwandlung in der Türkei sehr klar zum Ausdruck. Das ist verständlich, denn die Auswirkungen dieser Veränderungen sind ja täglich spürbar.
Deutschland ist in Bezug auf den Islam jedoch in einer etwas anderen Situation. Zum einen sind einem Großteil der Bevölkerung Ausrichtung und Unterschiede im Islam und Abgrenzungen zu radikal islamistischen Gruppen unbekannt. Und sie kennen die Hintergründe der aktuellen islamistischen Entwicklungen nicht.
Zum anderen verstärkt sich durch die Ankunft von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten die Ablehnung gegenüber einreisenden Muslimen und führt zu einer Verstärkung islamophober Einstellungen. Wir haben es also auch in Deutschland mit einer Spaltung in der Gesellschaft zu tun. Viele im Lande lebenden Muslime fühlen sich von der Bevölkerung diskriminiert und sind gekränkt. So entsteht auch bei uns die Gefahr des verstärkten Zulaufs zu extremistischen islamistischen Gruppen.
Insofern ist der Idee einer breiten Kooperation antiislamistischer säkularer Strömungen im In- und im Ausland zuzustimmen. Dazu bedarf es aber in beiden Ländern noch eine umfassendere Auseinandersetzung mit der komplexen und emotionsgeladenen Problematik, bevor gemeinsame Strategien entworfen werden können.